Zeitenwende für die Zivilgesellschaft

Foto: Pa­tri­cia Ka­lisch, www.patriciakalisch.de

Gleich in vier­fa­cher Hin­sicht war die 60. Mit­glie­der­ver­samm­lung des Lan­des­netz­werks Bür­ger­en­ga­ge­ment Ber­lin eine be­son­dere: Ers­tens we­gen der run­den Zahl, zwei­tens, weil sie nach lan­ger Zeit wie­der in Prä­senz statt­fin­den konnte, drit­tens, weil die Re­gie­rende Bür­ger­meis­te­rin Fran­ziska Gif­fey an­we­send war, und vier­tens, weil in der Dis­kus­sion zum Schwer­punkt­thema „Zei­ten­wende für die Zi­vil­ge­sell­schaft?“ viele kluge Ge­dan­ken ge­äu­ßert wurden.

von Hel­mut Herold

 

Fo­tos: Pa­tri­cia Ka­lisch, www.patriciakalisch.de

 

Die 60. Mit­glie­der­ver­samm­lung des Lan­des­netz­werks Bür­ger­en­ga­ge­ment Ber­lin am 15. Juni 2022 sollte nach dem Wil­len des Sprecher:innenrates eine be­son­dere sein. Und das war sie auch, aus meh­re­ren Grün­den: Ers­tens we­gen der run­den Zahl 60, zwei­tens, weil sie nach lan­ger Zeit wie­der in Prä­senz statt­fin­den konnte, was die meis­ten Teilnehmer:innen auch nutz­ten, drit­tens, weil die Re­gie­rende Bür­ger­meis­te­rin Fran­ziska Gif­fey an­we­send war, und vier­tens, weil in der Dis­kus­sion zum Schwer­punkt­thema „Zei­ten­wende für die Zi­vil­ge­sell­schaft?“ so viele kluge Ge­dan­ken ge­äu­ßert wur­den, dass man dar­aus auch ei­nen span­nen­den Pod­cast hätte her­stel­len können.

Es herrschte eine gute Stim­mung am Ver­samm­lungs­ort beim VdK Ber­lin-Bran­den­burg an der Li­ni­en­straße 131 in Mitte, die Fran­ziska Gif­fey mit ih­rem Gruß­wort wei­ter an­heizte. Eh­ren­amt­li­che Ar­beit trage dazu bei, „dass wir eine le­bens­werte Stadt ha­ben und die De­mo­kra­tie stär­ken“, so die Re­gie­rende Bür­ger­meis­te­rin. Dies gelte es zu ver­tei­di­gen. Sie sei be­ein­druckt und stolz über das En­ga­ge­ment für die Flücht­lings­hilfe. Zu den an die­sem Tag statt­ge­fun­de­nen Ver­hand­lun­gen über das Bünd­nis für Woh­nen sagte sie, be­zahl­ba­res Woh­nen sei auch eine Vor­aus­set­zung für bür­ger­schaft­li­ches En­ga­ge­ment. Denn wen exis­ten­zi­elle Sor­gen quäl­ten, hätte den Kopf nicht frei, um sich zu engagieren.

Und dann wurde aus­gie­big dis­ku­tiert zum Schwer­punkt­thema „Zei­ten­wende für die Zi­vil­ge­sell­schaft?“ Cle­mens Mül­ler von der Un­ter­kunft für ge­flüch­tete Men­schen aus der Ukraine des Uni­onhilfs­werk in Fried­richs­hain schil­derte, was sich in den ers­ten Stun­den ab­spielte, nach­dem ent­schie­den war, in sei­ner Ein­rich­tung Kriegs­flücht­linge un­ter­zu­brin­gen: „Kaum war die Ent­schei­dung ge­fal­len, stan­den schon die ers­ten Frei­wil­li­gen vor der Tür.“ Bis in die Mor­gen­stun­den habe man 300 Schlaf­plätze vor­be­rei­tet. Das sei eine tolle Er­fah­rung ge­we­sen. Al­ler­dings sei die Zu­sam­men­ar­beit mit 300 bis 500 neuen Eh­ren­amt­li­chen nur mit Un­ter­stüt­zung durch das Frei­wil­li­gen­ma­nage­ment-Team zu be­wäl­ti­gen gewesen.

Klaus-Pe­ter Licht von der Se­nats­ver­wal­tung für In­te­gra­tion, Ar­beit und So­zia­les ver­glich die heu­tige Si­tua­tion mit 2015, als Deutsch­land die Gren­zen für Bür­ger­kriegs­flücht­linge aus Sy­rien öff­nete. Auch da­mals sei er im Ber­li­ner Kri­sen­stab tä­tig ge­we­sen. „Es läuft heute bes­ser als 2015“, so Licht. Es sei in­zwi­schen viel in­ves­tiert wor­den in Frei­wil­li­genagen­tu­ren, Flücht­lings­ko­mi­tees und Netz­werke. Der Kon­takt zu den In­itia­ti­ven der Hel­fen­den sei bes­ser, diese seien bei al­len La­ge­be­spre­chun­gen da­bei. Sei­ner Mei­nung nach brauch­ten die spon­ta­nen neuen Struk­tu­ren aber nach ge­wis­ser Zeit Hilfe. Er stellte die span­nende Frage in den Raum, ob es so et­was wie Kri­sen­struk­tu­ren für die Frei­wil­li­gen­ko­or­di­na­tion ge­ben sollte. Wie kön­nen Spon­ta­ni­tät und das Know­how der Frei­wil­li­gen­ko­or­di­na­tion zu­sam­men­ge­führt wer­den? Klaus-Pe­ter Licht wies au­ßer­dem dar­auf hin, dass tra­di­tio­nelle Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen wie DRK und THW eben­falls wei­ter­hin Frei­wil­lige suchten.

Das war wohl das Stich­wort für Katja Bren­del, Lan­des­ko­or­di­na­to­rin well­come Ber­lin: Warum sei es so schwer, eine Brü­cke zwi­schen spon­ta­nem En­ga­ge­ment und be­stehen­den Eh­ren­amt zu schla­gen? „Nur weil es eine Krise gibt, ge­ben wir un­sere ei­gent­li­che Ar­beit doch nicht auf“, so Katja Bren­del. Auch sie hält Struk­tu­ren für not­wen­dig, mit de­nen man auf Kri­sen schnell und wirk­sam re­agie­ren könne. Denn, so eine wei­tere Wort­mel­dung, En­ga­ge­ment sei nicht gren­zen­los. We­der von der Kraft noch von der Zeit der Frei­wil­li­gen. Dies be­stä­tigte auch Cle­mens Mül­ler: „Die ers­ten vier Wo­chen wur­den wir über­rannt und muss­ten Leute wie­der nach Hause schi­cken.“ Dies sein in­zwi­schen nicht mehr so.

Su­sanna Kah­le­feld, stell­ver­tre­tende Vor­sit­zen­des des Aus­schus­ses für Bür­ger­schaft­li­ches En­ga­ge­ment, Bun­des­an­ge­le­gen­hei­ten und Me­dien des Ab­ge­ord­ne­ten­hau­ses, konnte mit ih­ren Aus­füh­run­gen auf ei­nen Teil der Fra­gen erste Ant­wor­ten ge­ben: „Die po­li­tisch Han­deln­den müs­sen ver­ste­hen, was Eh­ren­amt ist.“ Wenn ir­gendwo ein Man­gel er­kannt werde, wür­den Men­schen et­was da­ge­gen tun. Diese In­itia­tive gehe nicht von der Po­li­tik aus. Auf­gabe der Po­li­tik sei es, Struk­tu­ren und Ma­te­rial be­reit­zu­stel­len, „da­mit die Men­schen ihr Ge­mein­we­sen ge­stal­ten kön­nen, so wie sie es für rich­tig hal­ten; tem­po­rär oder dau­er­haft“. Auch die Ver­wal­tung ge­höre zu den Struk­tu­ren, die die Po­li­tik be­reit­stel­len müsse. Auf­gabe der Ver­wal­tung sei es zu se­hen, was kon­kret be­nö­tigt werde. Zum Bei­spiel das Lan­des­netz­werk Bür­ger­en­ga­ge­ment Ber­lin bes­ser zu un­ter­stüt­zen. Sie habe das Ge­fühl, so Su­sanna Kah­le­feld, „dass wir an vie­len Stel­len schon viel wei­ter ge­kom­men sind“. Ber­lin habe jetzt eine En­ga­ge­ment­stra­te­gie. Nun müsse ge­klärt wer­den, um wel­che der 100 Hand­lungs­emp­feh­lun­gen der Stra­te­gie sich die Be­zirke küm­mern und um wel­che der Se­nat. Au­ßer­dem brau­che Ber­lin ein Demokratiefördergesetz.

Frei­wil­lig en­ga­gierte Men­schen dürfe man auf kei­nen Fall be­vor­mun­den, teilte Chris­tine Fi­dan­can, Lei­te­rin des Eh­ren­amts­bü­ros Tem­pel­hof-Schö­ne­berg, ihre Er­fah­run­gen mit. Statt­des­sen gehe es darum her­aus­zu­fin­den, wo sie Un­ter­stüt­zung be­nö­ti­gen, und dann als Ver­wal­tung Hilfe an­zu­bie­ten. „Das Wich­tigste ist und bleibt der Dia­log“, so Chris­tine Fi­dan­can. Und zwar nicht auf Au­gen­höhe, son­dern als echte Partner.

Fa­zit: Co­rona und die Kriegs­flücht­linge aus der Ukraine ha­ben die Be­din­gun­gen für bür­ger­schaft­li­ches En­ga­ge­ment er­heb­lich ver­än­dert und da­mit zu ei­ner spür­ba­ren Zei­ten­wende ge­führt. Viel Bei­spiel­haf­tes wurde ge­leis­tet, um die neuen Her­aus­for­de­run­gen zu meis­tern. Doch es gibt noch of­fe­nen Fra­gen. Bei der Su­che nach Ant­wor­ten hat die 60. Mit­glie­der­ver­samm­lung des Lan­des­netz­wer­kes durch­weg ei­nen gu­ten Job ge­macht. Ge­treu dem Jah­res­motto „Werte.Gemeinschaft.Sein“.

Mitmachen

LANDESNETZERK BÜRGERENGAGEMENT BERLIN – Blog­bei­trag von Hel­mut Herold
zu­letzt über­ar­bei­tet 27.06.2022

Print Friendly, PDF & Email