Geschichten von der Nachtschicht am Silbertelefon

Foto: Anna Moll

Per­sön­li­che Schick­sale, Kum­mer, Leid und im­mer auch Ein­sam­keit las­sen Men­schen zum Te­le­fon grei­fen, um bei Sil­ber­netz e.V. über ihre Si­tua­tion zu spre­chen. Dort tre­fen sie auf ver­ständ­nis­volle Zuhörer:innen.

Wor­über in sol­chen Nacht­schich­ten ge­spro­chen wird, schil­dert Eve­line Harder

 

Am 24. De­zem­ber 2018 höre ich vor mei­nem Ar­beits­be­ginn ein Trom­pe­ten­kon­zert in der Kai­ser-Wil­helm-Ge­dächt­nis­kir­che. An­schlie­ßend ma­che ich ei­nen Spa­zier­gang über den lee­ren Weih­nacht­markt und gehe dann zum Bahn­hof Zoo, um in Rich­tung Pots­da­mer Platz zu fah­ren. Der rie­sige Um­stei­ge­bahn­hof, von dem ich wei­ter zur Wollank­straße Rich­tung Sil­ber­netz fahre, ist um 23 Uhr men­schen­leer, fast ge­spens­tisch. An der Fried­rich­staße stei­gen ei­nige Män­ner­grup­pen dazu, der Rest der Stadt ist zu Hause.

Um Mit­ter­nacht be­ginnt meine Schicht am Sil­ber­tel­ele­fon. Bis 6 Uhr mor­gens bin ich für die Men­schen da, die sich in der Hei­li­gen Nacht ein­sam füh­len. Mein al­ler­ers­tes Ge­spräch kommt von ei­nem Mann in Bay­ern, der nach dem Tode sei­ner Frau das Fest zum al­ler­ers­ten Mal al­lein be­geht. Keine Ver­wandt­schaft, kein Freun­des­kreis ist mehr vor­han­den. Ver­zwei­felt sitzt er mit ei­ner Fla­sche da, leicht an­ge­trun­ken und weint. Ihm Mut zu­zu­spre­chen und auf die Kon­takt­mög­lich­kei­ten in sei­ner Ge­meinde hin­zu­wei­sen, ist dann die Auf­gabe. Die Flut von Ge­sprä­chen be­ginnt meist nach 2 Uhr. Ent­we­der wa­chen die Men­schen dann auf oder die Fla­sche ist leer oder zu die­sem Zeit­punkt kocht die Ver­gan­gen­heit hoch, und sie kön­nen nicht schlafen.

Ge­rade zu den Fest­ta­gen tritt die Ein­sam­keit be­son­ders zu­tage. Ver­las­sen­heit in der Fa­mi­lie, die Kin­der ha­ben sich zu­rück­ge­zo­gen und mei­den den Kon­takt mit der Mut­ter so­wie Schuld­zu­wei­sun­gen jeg­li­cher Art sind oft zu hö­ren. Ver­zweif­lung, Trä­nen und Mut­lo­sig­keit sind die Folgen.

Eine Frau bit­tet mich, mit ihr das Glau­bens­be­kennt­nis zu spre­chen. Da­nach er­zähle ich ihr, dass ich mehr­mals im Jahr zu Ex­er­zi­tien ins Klos­ter gehe, um mich zu er­den. Sie fragt mich, ob ich ihr ein Klos­ter in Nord­deutsch­land her­aus­su­chen könne, da sie kein In­ter­net habe. Meh­rere An­ge­bote kann ich ihr nen­nen. Dann fragt sie, ob wir das Va­ter­un­ser be­ten könn­ten. An­schlie­ßend be­dankt sie sich für die Mög­lich­keit, zu so spä­ter Stunde mit ei­nem Men­schen zu sprechen.

Ein be­ren­te­ter Gast­ar­bei­ter klagt mir sein Leid, dass seine Toch­ter sich von ihm zu­rück­ge­zo­gen habe, weil er sich auf­grund ei­ner Dia­gnose nicht ope­rie­ren las­sen wolle. Wir beide er­ör­tern das Thema nach al­len Ge­sichts­punk­ten und plötz­lich ist un­sere Ge­sprächs­zeit von zwan­zig Mi­nu­ten fast vor­bei. „Mo­ment“, sagt er, „bitte war­ten Sie. Ich hole meine Gi­tarre, und singe Ih­nen dann ein ei­gens von mir kom­po­nier­tes Lied vor.“ Ge­sagt, ge­tan. Es be­ginnt mit den Wor­ten „Susi, komm bitte zu­rück …“. Dar­über bin ich sehr ge­rührt und be­danke mich auf­rich­tig dafür.

Dies ist eine sehr per­sön­li­che Sicht auf zahl­rei­che Nacht­schich­ten, die ich seit 2018 über­nom­men habe. Trotz all der ge­hör­ten Miss­lich­kei­ten des Le­bens ist dies eine sinn­volle und be­frie­di­gende Auf­gabe. Der Dank der Anrufer:innen ist groß. Ich war selbst ein­sam und habe bei Sil­ber­netz mein Ohr zur Ver­fü­gung ge­stellt, um den Men­schen zu­zu­hö­ren. Ih­nen das Ge­fühl zu ge­ben, ge­hört zu wer­den und Ver­ständ­nis für die ge­schil­derte Si­tua­tion zu finden.

Der Te­le­fon­dienst hat sich we­gen der Pan­de­mie völ­lig ver­än­dert. Durch die Ar­beit im Home-Of­fice gibt es nach der Nacht­schicht keine Rück­fahrt mehr mit dem öf­fent­li­chen Nahverkehr.

Der Hö­rer wird um 6 Uhr auf­ge­legt und ich könnte schla­fen ge­hen. Um den Kopf wie­der frei­zu­be­kom­men, un­ter­nehme ich statt­des­sen ei­nen Spa­zier­gang oder höre noch zwei Stun­den Mu­sik und lese, um mich in an­dere Wel­ten zu versetzen.

Sil­ber­netz e.V. wurde 2016 als ge­mein­nüt­zi­ger Ver­ein ge­grün­det und bie­tet seit Sep­tem­ber 2018 das Sil­ber­te­le­fon für Men­schen ab 60 Jah­ren mit Ein­sam­keits­ge­füh­len zum „ein­fach mal re­den“ an. Täg­lich er­reich­bar von 8 bis 22 Uhr und zu Weih­nach­ten zwi­schen Hei­lig­abend und Neu­jahr rund um die Uhr. Die Te­le­fon­num­mer lau­tet 0800 4 70 80 90. Mehr In­for­ma­tio­nen gibt es auf www.silbernetz.org.

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zu­letzt über­ar­bei­tet 08.03.2022

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