Das Theaterensemble PAPILLONS präsentierte ihr neues Stück

In der Spra­che er­finde ich mich im­mer wie­der neu.“ (1)

von Sa­bine Walter

 

 

Das Thea­ter­en­sem­ble PAPILLONS gibt ins­be­son­dere Men­schen mit De­menz eine Stimme. Wit­zig und weise mel­den sie sich in „SCHATTEN SAMMELN“ zu Wort. Diese poe­tisch-mu­si­ka­li­sche Le­sung ist eine wei­tere In­sze­nie­rung der Thea­ter­lei­te­rin Chris­tine Vogt im Pfle­ge­wohn­heim „Am Kreuz­berg“ des Uni­onhilfs­werks Berlin. 

Das Pa­nel der Le­sen­den ist eine lange Ta­fel: Weiße Tisch­de­cken, Glas­kel­che und ein­zelne Por­zel­lan­fi­gu­ren. Die neun Vor­tra­gen­den neh­men Platz, es wird ein­ge­schenkt – na­tür­lich Was­ser. Vom Ton­band er­klingt der Ge­sang ei­ner äl­te­ren Dame „Rös­lein, Rös­lein, Rös­lein rot“. Es ist die im Fe­bruar ver­stor­bene Ma­ria Lang­gärt­ner. Ihr La­chen schallt durch den Saal und er­öff­net den Abend.

Reihum tra­gen die Le­sen­den ihre ers­ten Zei­len vor. Es sind Über­le­gun­gen, die dem Satz­an­fang „Be­vor ich den Löf­fel ab­gebe …“ fol­gen. „… möchte ich Bäume ma­len, Lin­sen­suppe schlür­fen, schreibe ich ein Ge­dicht für Eure Re­gung.“ (2) Dar­un­ter schon die ers­ten Wit­ze­leien, wie das im Sprach­bild blei­bende „Meine Lie­ben sol­len die Suppe aus­löf­feln, die ich ge­kocht habe.“ (3) Die Zu­hö­ren­den la­chen und ver­ste­hen, hier wer­den sie Zu­tritt zu ei­ner sonst viel­leicht ver­schlos­se­nen oder sich frag­men­ta­risch über­la­gern­den Ge­dan­ken­welt bekommen.

 

Das Un­sag­bare zu Worte bringen“
So be­stimmt Thea­ter­re­gis­seu­rin Chris­tine Vogt in ei­ner Zwi­schen­mo­de­ra­tion die Poe­sie an die­sem Abend. Ihr Kunst­griff sind die zahl­rei­chen Stich­worte, mit de­nen sie ihr En­sem­ble in je­weils ab­ge­steck­ten Ge­dan­ken­räu­men zum Tex­ten und Rei­men an­regte: „Aus mei­ner Vo­gel­per­spek­tive sehe ich …“, „Die Liebe wohnt …“, „Die Angst kriecht“. In­spi­riert wurde Chris­tine Vogt durch die Heim­be­woh­ne­rin Al­dona Holm­s­ten (geb. Gus­tas). In Li­tauen ge­bo­ren, war sie zeit­le­bens li­te­ra­risch so­wie ma­le­risch tä­tig und grün­dete 1972 die Künst­ler­gruppe „Ber­li­ner Ma­ler­poe­ten“. In ih­rer Wahl­hei­mat Deutsch­land traf sie da­bei u.a. auf Künst­ler wie Kurt Müh­len­haupt oder Gün­ter Grass. Bis heute stö­bert sie in Bü­chern, liest und re­zi­tiert. Es sind ge­nau diese Ge­dicht­an­fänge, die hier den ro­ten Fa­den vor­ge­ben. Am Thea­ter­abend sitzt sie in der ers­ten Reihe, die künst­le­ri­sche At­mo­sphäre ist ihr sicht­lich ver­traut und eine Freude. Fast scheint es, als di­ri­giere sie mit ih­ren Ges­ten den Wohl­klang der Vorträge.

In der Zwi­schen­zeit pros­ten sich vorne alle zu, es wird an­ge­sto­ßen und ge­trun­ken! Eine In­sze­nie­rungs­idee? Ja, das En­sem­ble sollte sich und seine Texte fei­ern. Be­vor es wei­ter­geht, wird aus dem Was­ser­krug nach­ge­schenkt. Das Pu­bli­kum schaut der Szene zu.

 

Meine Ge­dichte sind Um­hül­lun­gen vom in­ne­ren Le­ben“ (4)
Wie­der und wie­der le­sen die Vor­tra­gen­den ihre Zei­len – zu­wei­len in so­wohl ganz ein­fa­chen wie zu­gleich er­kennt­nis­tie­fen Sät­zen: „Im Ge­dicht schreibe ich über et­was, was ich noch gar nicht weiß.“ (5). Oder in schöns­ten Sprach­bil­dern: „Wenn Kie­fern rau­schen, sind sie in ein Ge­dicht ge­fal­len.“ (6) Oder herr­lich wit­zig: „Mein Lieb­lings­wort ist ‚Scheiße‘ – ich steige aus dem Auto und trete in mein Lieb­lings­wort“ (7). „Är­ger­lich bin ich, dass ich ver­gess­lich bin, meine Brille su­che und die Nase ver­flu­che, auf der sie sitzt.“ (8) Auch die Zei­len von Ma­ria Lang­gärt­ner sind da­bei – sie bringt der Schau­spie­ler Mi­chael Hane­mann, be­kannt aus Film und TV, zu Gehör.

Wenn Chris­tine Vogt den Akteur:innen das Mi­kro­fon in die Hand gibt, wis­sen sie, das nächste Blatt auf dem Tisch vor ih­nen soll nun ge­le­sen wer­den. An­schlie­ßend hef­tet die im Hin­ter­grund as­sis­tie­rende Clau­dia Blaich die bun­ten hand­ge­schrie­be­nen Text­blät­ter an die Wand zu ei­ner mehr und mehr an­wach­sen­den Wort­wolke über den Köp­fen. Und in den Köp­fen kön­nen die Worte wäh­rend der kur­zen Viola-Stü­cke, kom­po­niert und vor­ge­tra­gen von Mike Flem­ming, nach­klin­gen. Die Kom­po­si­tio­nen schei­nen mit ih­ren mal zar­ten, mal kräf­ti­gen Bo­gen­zü­gen in ei­nen Dia­log mit dem Ge­sag­ten und Ge­dach­ten zu tre­ten. Poe­sie in Noten.

 

Wir er­zäh­len bis ans Ende un­se­rer Tage in Rot“ (9)

Wenn die Ak­teu­rin Hei­de­rose Neu­mann an der Mund­har­mo­nika „Rös­lein, Rös­lein, Rös­lein rot“ spielt, geht der Abend zu Ende. Das Pu­bli­kum ist be­rührt und dank­bar. Si­cher möchte so manche:r am liebs­ten ein klei­nes Ge­dicht­bänd­chen mit all die­sen Ver­sen vol­ler Le­ben mit­neh­men. „Im Schat­ten liebe ich das Licht dop­pelt und drei­fach“ (10) – das En­sem­ble PAPILLONS will das Le­ben aus­schöp­fen: „Be­vor ich den Löf­fel ab­gebe, möchte ich, dass der Tel­ler leer ist.“ (11)

Chris­tine Vogt er­ar­bei­tete mit dem En­sem­ble seit 2016 be­reits meh­rere Pro­jekte: das Mu­sik­thea­ter HERZTÖNE, das Film­pro­jekt INNEN LEBEN und den 3‑teiligen Pod­cast STILLLEBEN. Alle Pro­duk­tio­nen ent­ste­hen in Trä­ger­schaft der Stif­tung Uni­onhilfs­werk Ber­lin. Die Re­gis­seu­rin für In­klu­si­ves Thea­ter grün­dete 1990 das Thea­ter Thikwà für Men­schen mit und ohne Be­hin­de­rung und ar­bei­tet nun auch als Be­treu­ungs­as­sis­ten­tin im Pfle­ge­wohn­heim „Am Kreuz­berg“ des Uni­onhilfs­werks. Am Abend be­dankt sie sich aus­drück­lich für alle Hilfe und Un­ter­stüt­zung, die sie für ihre Ar­beit von der Stif­tung Uni­onhilfs­werk Ber­lin, der Lei­tung und dem Pflege- und Be­treu­ungs­team des Pfle­ge­wohn­heims erhält.

(1, 6, 9,10 : Al­dona Holm­s­ten,  2, 4: Udo Thiel, 3, 5, 7: Hei­de­rose Neu­mann, 8: El­vira Werth­mül­ler, 11: Ella Kuntzke)

Text: Sa­bine Walt­her, Fo­tos: Christa Mayer, Sa­bine Walter

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zu­letzt über­ar­bei­tet 23.08.2022

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